Stolpersteine in Chemnitz
Verlegeort:
Walter-Oertel-Straße 38
Stolperstein-Verlegung am:
5. Oktober 2020
Lebensweg

Foto: Archiv Chaim Noll
Meine Großmutter Magdalena Noll wurde in Reichenbach im Vogtland geboren. Vermutlich war ihre Geburt unehelich. Ihre Mutter, eine Sozialdemokratin, starb früh an Tuberkulose, von ihrem Vater, einem jüdischen Kaufmann, hieß es in der Familie, er sei zu Beginn der NS-Zeit »nach Palästina ausgewandert«. Magdalena, die ihre Freunde Magda und wir in der Familie Mamascha nannten, besuchte ein Lehrerinnenseminar in Dresden und musste in der Inflationszeit eine Stelle als Fremdsprachenkorrespondentin annehmen. Sie sprach außer Deutsch fließend Englisch und Französisch.
1926 heiratete sie meinen Großvater, den Apotheker Hans Noll, im selben Jahr wurde dem Ehepaar die Tochter Margarete geboren, die später als Übersetzerin arbeitete, Silvester 1927 der Sohn Dieter, der ein bekannter Schriftsteller wurde. Das literarische Talent in der Familie stammte zweifellos von Mamascha, die Zeit ihres Lebens belletristische Bücher in verschiedenen Sprachen las und selbst erzählende Prosa schrieb, wovon nur Bruchstücke die NS-Zeit überdauert haben.
In der NS-Zeit drohte der Familie der wirtschaftliche Ruin, da mein Großvater wegen des Vermerks in seiner Akte »Frau Jüdin« keine Apotheke mehr führen durfte – das Ehepaar ließ sich daher 1938 im gegenseitigen Einvernehmen scheiden. In einem Lebenslauf, der im Sächsischen Staatsarchiv vorliegt, schrieb Magda Noll, die Scheidung von Hans sei erfolgt, »um ihm seinen Beruf und damit unseren Kindern gute Ausbildungsmöglichkeiten zu erhalten.« Dennoch musste ihr Sohn Dieter im gleichen Jahr das Musische Gymnasium in Frankfurt verlassen.
Magda Noll lebte zunächst mit den Kindern in Ohlau in Schlesien, während ihr Mann die Familie weiterhin unterstützte und seine freie Zeit bei Frau und Kindern verbrachte. Er wurde daher wegen »Rassenschande« und »Scheinscheidung« angezeigt. 1942 gelang es ihm, in Chemnitz eine Apotheke zu pachten. Magda wurde 1941 aus ihrer Wohnung ausgewiesen, sie war eine Zeit lang obdachlos und lebte in wechselnden Unterkünften bei Freundinnen. Vom Arbeitsamt Leitmeritz in Nordböhmen wurde sie zwangsverpflichtet und einer Speditionsfirma zugewiesen.
Im Mai 1943 erfolgte ihre erste Verhaftung durch die Gestapo, man beschuldigte sie der Unterschlagung von zwei Waggons Kohle, im Dezember des gleichen Jahres wurde sie erneut inhaftiert und, wie sie später schrieb, »Tage und Nächte verhört«. Zu Beginn des Jahres 1945 wurde sie nach einer weiteren Denunziation zum dritten Mal von der Gestapo abgeholt und ins Konzentrationslager Theresienstadt gebracht. Sie überlebte das KZ, auch die nach der Befreiung in Theresienstadt ausbrechende Typhusepidemie – in der Familie wurde erzählt, es sei meinem Großvater zu verdanken, der sie kurz vor ihrer Verhaftung vorsorglich gegen Typhus und andere Krankheiten geimpft hatte.
Ich erlebte meine Großmutter Mamascha, die nach dem Krieg ihren Mann Hans zum zweiten Mal heiratete und ihren Lebensabend in Chemnitz verbrachte, als humoristische, literarisch gebildete Erzählerin interessanter, manchmal erschütternder Geschichten. Sie hatte ein schweres, zeitweise schreckliches Schicksal, und ich bin glücklich darüber, dass die Stadt Chemnitz ihr zur Erinnerung einen Stolperstein setzen will. Sie war eine außergewöhnliche, mutige Frau und hat ein Zeichen der Erinnerung verdient. Ich danke der Stadt Chemnitz und dem Historiker Dr. Jürgen Nitsche, der ihre auch mir lange unbekannte Leidensgeschichte durch seine Studien offengelegt hat.
Hier liegt der Stolperstein für Magdalena Noll:
Stolpersteine in Chemnitz
Es ist ein Projekt gegen das Vergessen: in Chemnitz werden seit 2007 jährlich Stolpersteine verlegt.
Eingelassen in den Bürgersteig, erinnern die Gedenksteine an tragische Schicksale von Mitbürgern, die während des nationalsozialistischen Regimes verfolgt, deportiert, ermordet oder in den Tod getrieben wurden.
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